Westsibirien: Ölrausch in der Taiga

Land (Basisdaten)

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Mit über 17 Millionen Quadratkilometern ist Russland der größte Flächenstaat der Erde. 62% davon entfallen auf den Hohen Norden, Sibirien und den Fernen Osten Russlands, Gebiete, die von indigenen Völkern bewohnt und genutzt werden, von den Sámi im Westen bis zu den Yupiq (Eskimo) der fernöstlichen Tschuktschen-Halbinsel. Diese sind größtenteils durch boreale Wälder und baumlose Tundra gekennzeichnet. Für viele der etwa 200.000 Angehörigen der indigenen Völker des Nordens stellen Jagd, Fischfang, Sammeln und Rentierzucht wesentliche Einkommens- und Nahrungsquellen dar. In Westsibirien, der Kernregion der Öl- und Gasindustrie, stellen die Indigenen heute nur noch verschwindende Minderheiten in einer von Arbeitsmigranten dominierten Gesellschaft dar.

 

Politische und wirtschaftliche Charakteristika

Ebenso wie im Zentrum herrschen auch in den Provinzen Russlands zunehmend undemokratische Verhältnisse. So wird etwa das ölreiche autonome Gebiet der Ewenken seit 2001 von einem Direktor des Ölkonzerns Yukos regiert.

Der Export von Erdöl und Erdgas stellt den Löwenanteil der russischen Deviseneinkünfte. Das Umweltministerium wurde unter Präsident Putin aufgelöst.

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Politische und rechtliche Stellung der betroffenen Indigenen

Die russische Verfassung erkennt die Rechte der indigenen Völker des Nordens ausdrücklich an und räumt den völkerrechtlichen Verpflichtungen des Staates sogar Vorrang über nationales Recht ein. Gleichzeitig werden föderale Gesetze zum Schutz von Landrechten nicht implementiert, sodass der Status indigener Territorien prekär ist. Seit Beginn der 90er Jahre haben sich indigene Vertreter für einen Beitritt zum ILO-Übereinkommen 169 eingesetzt, sind jedoch bis heute erfolglos geblieben. Die regionalen Selbstorganisationen der Indigenen werden oftmals von den Administrationen anerkannt, sind jedoch finanziell und logistisch gänzlich von diesen abhängig und treten somit kaum als eigenständige politische Akteure in Erscheinung.

Fallbeschreibung

Betroffene indigene Völker

Die westsibirischen Ethnien der Chanty und Mansi gehören dem ugrischen Zweig der finno-ugrischen Sprachfamilie an, ihre nächsten sprachlichen Verwandten sind mithin die Ungarn. Nur weitläufig mit ihnen verwandt sind ihre nördlichen Nachbarn, die Nenzen. Diese stellen den größten Teil der nördlichen Rentiernomaden, während bei Chanty und Mansi Fischfang und Jagd dominieren. Die Gesamtzahl der Nenzen beträgt weniger als 30- 50.000, Chanty und Mansi kommen zusammen auf etwa 20-30.000 Angehörige.

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Überblick

Seit den 60er Jahren ist Westsibirien Gravitationszentrum der sowjetischen bzw. russischen Öl- und Gasförderung. Der Aufbau der sibirischen Ölindustrie hatte nicht nur die größte Migrationsbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg zur Folge sondern auch die rasanteste Naturvernichtung der sowjetischen Geschichte. Die indigenen Völker wurden so zur winzigen Minderheit und zum randständigen Lumpenproletariat im eigenen Land gemacht. Heute sind hunderte Seen und Flüsse durch Erdöl und andere Chemikalien so belastet, dass kein Fischfang mehr möglich ist. Waldbrände und Pipelinelecks sind an der Tagesordnung, die rasante Vernichtung der Weidegründe macht die Rentierhaltung zunehmend unmöglich. Durch die auch aus dem Weltraum sichtbaren, Tag und Nacht brennenden Gasfackeln tauen werden Permafrostböden ab. Mit der Perestroika wurde Mitte der 80er Jahre erstmals das ganze Ausmaß der Katastrophe bekannt. Die jungen sowjetischen Bürger- und Umweltbewegungen erlebten einen kurzen Frühling, in dem auch mit öffentlichen Aktionen und zivilem Ungehorsam für die Rechte der Indigenen und die Erhaltung ihrer Lebensgrundlagen gestritten wurde. Doch die sich verschärfende wirtschaftliche Lage der meisten Sowjetbürger führte dazu, dass politisches Engagement sehr schnell zum überflüssigen Luxus geriet und sich keine Tradition einer selbstbewussten Bürgerbewegung herausbilden konnte. .

Die direkt betroffenen Rentierzüchter, Jäger und Fischer stehen einer weiteren Expansion der Ölindustrie überwiegend eindeutig ablehnend gegenüber, doch verhindert die Überzeugung von der eigenen Machtlosigkeit bis auf wenige Ausnahmen die Formierung eines indigenen Widerstands. Die derzeit hohen Erdölpreise erhöhen den Druck auf indigene Territorien weiter.

 

Beteiligte deutsche Firma/Einrichtung

Die Russische Föderation ist der wichtigste Energielieferant der Bundesrepublik. Seit dem Erdgas-Röhrengeschäft der Brandt-Ära besteht eine enge wirtschaftliche Zusammenarbeit. Der engste und älteste Partner der russischen Gasprom ist die Ruhrgas A.G., die Anteile an dem russischen Monopolisten hält und in dessen Aufsichtsrat vertreten ist. Große Mengen russischen Erdöls werden in deutschen Raffinerien verarbeitet. Der Pipelinebau nach Westeuropa wurde u.a. durch Milliardenkredite deutscher Privatbanken finanziert. Auch Hermesbürgschaften waren im Gespräch. Schließlich ist die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) an einer Reihe großer Ölprojekte massiv beteiligt, besonders auf der Insel Sachalin. Insgesamt spielt Russland in den strategischen Planungen der EU im Hinblick auf Energieversorgungssicherheit eine absolut zentrale Rolle.

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Menschenrechtliche Folgen

Aus den Menschenrechtspakten leiten sich drei Arten von Verpflichtungen ab, die durch die Regierung verletzt wurden: Erstens die Verpflichtung, die Rechte der Indigenen Völker zu respektieren. Diese wurden u.a. durch Zwangsumsiedlung und Enteignung von Land verletzt. Die zweite Verpflichtung betrifft den Schutz der Indigenen vor Aggressionen von dritter Seite, also insbesondere vor widerrechtlichem Eindringen von Ressourcenprospektoren und Ölkonzernen. Auch dies ist bis heute nicht sichergestellt. Schließlich ist der Staat verpflichtet, die volle Realisierung der Menschenrechte zu gewährleisten, wo dies bis heute nicht der Fall ist, dies beträfe eine aktive Förderung indigener Bestrebungen nach Entwicklung eigener tragfähiger wirtschaftlicher Strukturen, die zuvor durch die sowjetische Kollektivierung nachhaltig zerstört worden sind.

Verstoss gegen ILO-Konvention

Die Erschließung der Öl- und Gasreserven erfolgte im autoritären Sowjetstaat naturgemäß ohne Konsultation der als unmündig behandelten indigenen Völker. Ihrer heutige Rechtsstellung ist äußerst unsicher. Konsultationen finden entweder nicht statt oder haben nur formalen Charakter.

Der russische Staat kommt seiner Verpflichtung, indigene Territorien zu demarkieren bis heute nicht angemessen nach. Zwar existieren manchen Regionen entsprechende Regelungen, doch ist der Status der dort vergebenen Landtitel unsicher. Die Implementierung eines föderalen Gesetzes über indigene Territorien wird seit 2001 von den Ministerien blockiert. Angemessene Entschädigung (Art. 15 und 16.5) ist in den seltensten Fällen sichergestellt.

Darüberhinaus sorgen sprachliche Probleme, das Bildungs- und Machtgefälle sowie die Gewissheit der eigenen Machtlosigkeit dafür, dass indigene Gemeinschaften den Vorhaben der Öl- und Gaskonzerne kaum Widerstand entgegen bringen können.

Internationale Beteiligung am Protest?

Klassische internationale Protestkampagnen sind für die politischen Vertreter der Indigenen Russlands eher noch unüblich. Ein höheres Gewicht hat die Lobbyarbeit in internationalen Organisationen, insbesondere der UNO. Als hilfreich beurteilten Vertreter der Russischen Assoziation der Indigenen Völker (RAIPON) die Berichts- und Überwachungsverfahren zu den internationalen Menschenrechtspakten.

 

Quellen und Kontakte

RAIPON (Assoziation der Indigenen Völker des Russischen Nordens)
L’auravetl’an Indigenous Information Center
Die indigenen Völker Westsibiriens und die Erschließung der Öl- undGasvorkommen seit den 1960er Jahren. Ein Konflikt um Land, Ressourcenund Lebensweisen. Magisterarbeit von Johannes Rohr, Köln 1999.
Haller Tobias u.a. (Hg): Fossile Ressourcen, Erdölkonzerne undindigene Völker. Giessen (Focus) 2000. (infoeStudie 12)

Berichterstatter

Johannes Rohr, Institut für Ökologie undAktions-Ethnologe e.V. (Infoe)
Melchiorstr. 3
50670 Köln,
Tel./Fax: 0221-7392871
http://www.infoe.de

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