Argumente: Internationale Rechte für indigene Völker

Warum die Bundesregierung die ILO-Konvention Nr. 169 zum Schutz indigener und in Stämmen lebender Völker ratifizieren soll.

 

Nach Schätzungen der UNO und laut Aussagen der Betroffenen gehören zwischen 300 und 400 Millionen Menschen auf der Welt indigenen Völkern, Nationen und Gemeinschaften an. Das sind 4 bis 5 Prozent der Erdbevölkerung. In vielen Gebieten stellen sie die ursprüngliche Bevölkerung dar, in anderen Gebieten gehören sie zu den Vertriebenen und Geflüchteten, die dort zum Teil eine neue Heimat gefunden haben, zum Teil aber auch in der Ödnis verkümmern. In der Regel verfügen indigene Völker und Gemeinschaften über eigene Sprachen, Religionen, politische und soziale Institutionen sowie insgesamt über eine eigene Kultur. Soweit sie können, leben viele noch in enger Beziehung zur Natur.

 

Bis heute sind sie Opfer von Ausbeutung, Unterdrückung, Diskriminierung oder gar Genozid (Völkermord). Ihre natürlichen und spirituellen Lebensgrundlagen werden durch Konzerne und Staaten, unter deren Herrschaft sie leben müssen, geradezu systematisch bedroht und zerstört. Dies umfasst die Mißachtung ihrer Land-, Jagd- und Sammelrechte in fast allen Staaten, die Zerstörung ihres Lebensraumes durch Abholzung, Staudämme, Bergbau oder Industrieanlagen in Kanada, Brasilien, West-Papua, China, Indien oder den USA, die Auslöschung ihrer kulturell bestimmten Lebensweise und Mißachtung spiritueller Orte in Brasilien, Peru, Kolumbien, Australien oder bei Transmigrationsprojekten wie in Indonesien. Ihre eigene Sprache, Bildung und Gesundheitsversorgung wird ihnen selten und unzureichend zugestanden. Ihr traditionelles Wissen um heilende Wirkstoffe von Pflanzen wird mißbräuchlich genutzt und vermarktet. Gleiches gilt für Kunstobjekte und traditionelle Designs indigener Kunst und Kultur.

 

Parallel dazu lässt sich beobachten, wie etwa bei Strukturanpassungen im Zuge der neoliberalen Globalisierung Nationalstaaten ihre Rechtssysteme an die Vorgaben zur Liberalisierung des Marktes anpassen und Partizipationsrechte der indigenen Bevölkerung abbauen; so im Bereich des Bergbaus oder der Ölförderung. Indigene Völker gehören in der Regel zu den politisch, wirtschaftlich und sozial am gröbsten benachteiligten Bevölkerungsgruppen.

 

Internationale Normen zum Schutz dieser Völker existieren in weit geringerem Maße verglichen etwa mit dem Schutz der Kapitalinvestitionen auf ihren Territorien oder gegenüber Entwicklungsmaßnahmen durch Staaten. So geht etwa von Artikel 27 des Übereinkommens über bürgerliche und politische Menschenrechte oder von der internationalen Konvention zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung eine Schutzwirkung für indigene Völker aus. Sie sind jedoch als Individualrechte konzipiert und tragen dem besonderen Erfordernis des Gruppenschutzes nicht genügend Rechnung, während die ILO-Konvention 169 auch die Rechte der indigenen Gemeinschaft – etwa Landrechte, Religion oder traditionelle Institutionen auf ihren Territorien – festschreibt.

 

So ist die Übereinkunft Nr. 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (International Labour Organization; ILO) die bislang einzige, völkerrechtlich verbindliche Norm zum Schutz „indigener und in Stämmen lebender Völker“. Sie wurde 1989 verabschiedet. Von den momentan 177 Mitgliedsstaaten der ILO haben bis Februar 2004 allerdings nur 17 Staaten diese Konvention ratifiziert. Dessen unbeschadet wird die ILO-Konvention 169 mittlerweile in vielen Dokumenten der UNO oder anderer internationaler Institutionen zitiert, wenn es um Standards zum Schutz der Menschenrechte indigener Völker geht. Wie prekär die Lage der Menschenrechte indigener Völker nach wie vor ist, lässt sich nicht zuletzt daran ermessen, dass die Vereinten Nationen für die Jahre 1994 bis 2004 ein ganzes Jahrzehnt zur Förderung der Rechte indigener Völker ausgerufen haben.

 

 

Wer ist die ILO?

Die ILO wurde 1919 gegründet. Sie ist damit die älteste Sonderorganisation der UNO. Die ILO setzt sich aus Vertretern von Regierungen, Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen zusammen und verfolgt das Ziel, weltweit soziale Sicherheit zu gewährleisten sowie Lebens- und Arbeitsbedingungen für alle zu verbessern. „Der Weltfriede kann auf Dauer nur auf sozialer Gerechtigkeit aufgebaut werden“ lautet einer der Grundsätze der ILO. Das „Internationale Arbeitsamt“ in Genf ist das ständige Sekretariat der Organisation.

 

Im Kontext der sozialen Gerechtigkeit beschäftigt sich die ILO bereits seit dem Jahr 1920 mit indigenen Völkern. Damals nahm sie die Zwangsarbeitsverhältnisse auf Plantagen in Südamerika ins Visier, denen auch indigene Arbeiter ausgesetzt waren. Es dauerte allerdings bis zum Jahr 1957, bis eine erste internationale Richtlinie zum Schutz der Angehörigen indigener Völker, die Konvention Nr 107, verabschiedet und in Kraft gesetzt wurde („Konvention zu indigenen und in Stämmen lebenden Bevölkerungen“). Diese Konvention ratifizierten 27 Staaten.

 

Die Konvention 107 ging allerdings noch davon aus, dass Angehörige indigener Völker sich in die nationale Gesellschaft zu integrieren und die Besonderheiten ihrer Kultur abzulegen haben, wenn sie vollwertige Mitglieder der Gesellschaft werden wollten. Ihre Lebensweise wurde eher als rückständig und Hindernis für die eigene Entwicklung gewertet. Die Assimilierung indigener Lebensentwürfe an von außen vorgegebene Muster geriet jedoch aufgrund ihrer gravierenden Folgen für die Existenz und Würde der Indigenen ab den 1970er Jahren zunehmend in die Kritik. Indigene Völker wurden deutlicher als Opfer der herrschenden Entwicklung wahrgenommen und gleichzeitig als Subjekte spezifischer, kollektiver Rechte identifiziert.

 

Die Internationale Arbeitsorganisation konnte und wollte sich dieser Kritik nicht entziehen und ersetzte im Jahr 1989 die Konvention 107 durch die ILO-Konvention Nr. 169. Diese Konvention haben bis Februar 2004 insgesamt 17 Mitgliedsstaaten der ILO ratifiziert; Argentinien (2000), Bolivien (1991), Brasilien (2002), Costa Rica (1993), Dänemark (1996), Dominica (2002), Ecuador (1998), Fiji (1998), Guatemala (1996), Honduras (1995), Kolumbien (1991), Mexico (1990), die Niederlande (1998), Norwegen (1990), Paraguay (1993), Peru (1994) und Venezuela (2002).

 

Im Vergleich der Signatarstaaten beider Konventionen fällt auf, dass die neuere Konvention 169 überwiegend von Staaten aus Lateinamerika und der Karibik angenommen wurde. Dagegen wurde das Übereinkommen 169 weder von Staaten aus Afrika, dem Nahen Osten noch aus Asien ratifiziert – im Unterschied zum Übereinkommen 107 mit seinem Ansatz der Assimilierung, das u.a. Ägypten, Angola, Bangladesh, Ghana, Guinea-Bissau, Indien, Irak, Malawi, Pakistan, Syrien und Tunesien in nationales Gesetz überführt hatten.

 

Was beinhaltet die ILO-Konvention Nr. 169?

Die ILO-Konvention 169 erkennt nicht zuletzt durch den Begriff ‚Völker‘ die Existenz indigener Gemeinschaften und Nationen im Sinne eigenständiger, dauerhafter soziopolitischer und kultureller Einheiten innerhalb der nationalen Gesellschaft an. Zur Aufrechterhaltung und Fortentwicklung dieser eigenständigen Existenz erachtet das Übereinkommen spezifische Rechte für diese Gemeinschaften als unabdingbar.

 

Die insgesamt 44 Artikel verpflichten die Unterzeichnerstaaten, indigenen Völkern eine Entwicklung zu ermöglichen, die ihren jeweiligen eigenen Prioritäten als indigenes Volk Rechnung trägt. Dazu gehören insbesondere:

* die volle und unterschiedslose Gewährleistung der Menschenrechte und Grundfreiheiten in den Art. 2 und 3; darunter die Gleichberechtigung vor Verwaltung und Justiz, Art. 8 und 9;

* das Recht auf kulturelle Identität, auf gemeinschaftliche Strukturen und Traditionen, Art. 4;

* das Recht auf Gestaltung der eigenen Zukunft, Art. 6 und 7; vor allem das Recht auf Beteiligung an Entscheidungen, die diese Völker direkt betreffen;

* das Recht auf Land und Ressourcen zur Sicherung der eigenen Identität, Art. 13-19;

* das Recht auf Beschäftigung und angemessene Arbeitsbedingungen, Art. 20;

* das Recht auf Ausbildung und Zugang zu Kommunikationsmitteln, Art. 21.

 

Das faktische Herzstück der ILO Konvention 169 stellen die Konsultations- und Partizipationsverfahren in den Artikeln 6 und 7 dar. Gemäß den Ausführungsbestimmungen müssen die Konsultationen im ‚guten Glauben‘, den kulturellen Gegebenheiten angemessen ausgeführt und mit authentischen Organisationen durchgeführt werden. Die Betroffenen müssen die Ziele und Folgen eines Projektes tatsächlich verstehen und beurteilen können. Falls notwendig, sind mehrere Treffen anzuberaumen, um eine Einigung herbeizuführen. Notfalls ist die Regierung gehalten, nach einem anderen Mechanismus zu suchen, um diese Übereinstimmung zu erreichen.

 

Die umfassende Einbeziehung der Lebenswelten indigener Völker in den Schutzmechanismus der Konvention wirkt sich nicht zuletzt auf den Bereich der nachhaltigen Bewirtschaftung ihrer Territorien aus. Schon der Brundtland-Report von 1987 („Our Common Future“) hob hervor, dass indigene Völker die natürlichen Ressourcen in beispielhafter Weise nachhaltig nutzen. Sie leben oft in Gegenden, die für die Erhaltung der biologischen Artenvielfalt von hoher Bedeutung sind. Es ist kein Zufall, dass viele dieser Gegenden wie grüne Inseln aus einem verwüsteten Ödland hervorragen. Natürlich verhalten sich nicht alle Angehörigen einer indigenen Gemeinschaft ökologisch korrekt. Wesentlich ist jedoch die Beobachtung, dass indigene Völker konzeptionell einer ressourcenschonenden Wirtschaftsweise zuneigen und diese selbst unter heutigen Bedingungen zu verteidigen suchen.

 

Nicht alle indigenen Repräsentanten sehen allerdings in der ILO-Konvention 169 den ultimativen Standard zum Schutz ihrer Rechte. So kritisieren etwa Aborigine-Vertreter aus Australien oder indigene Delegierte bei der UNO aus den USA und Kanada das im Übereinkommen nicht gelöste Selbstbestimmungsrecht. Die ILO-Konvention reicht quasi bis zur regionalen Autonomie, aber innerhalb des gegebenen Staates und dessen Gesetzgebung. Demgegenüber machen diese Repräsentanten auch unter Verweis auf historische Verträge geltend, dass sie auf der Anerkennung als völkerrechtliche, den Staaten gleichberechtigte Subjekte bestehen. Als Mangel erweist sich mittlerweile auch die Nichtberücksichtigung der Rechte an den natürlichen Ressourcen. In den 1980er Jahren war dieses Thema noch nicht so virulent wie heute. Vielfach erkennen die Signatarstaaten der ILO-Konvention de jure zwar das Recht am Land, aber nicht an den Bodenschätzen an. Insgesamt spricht sich auf indigener Seite jedoch niemand gegen die ILO-Konvention aus, sondern verweist auf den dadurch begründeten Minimalstandard für die Rechte indigener Völker.

 

 

Warum sollte die Bundesrepublik Deutschland die ILO-Konvention 169 unterzeichnen?

Dass in Deutschland keine indigenen Völker leben, ist bekannt. Dies steht einer Ratifizierung durch die Bundesregierung jedoch nicht entgegen. Es existieren gleichwohl vielfältige Beziehungen. So führen die von der Bundesrepublik Deutschland ausgehende Politik und wirtschaftlichen Tätigkeiten zu unmittelbaren Folgen für indigene Völker. Tiefflüge der Bundeswehr über dem Gebiet der Innu in Kanada, Beteiligungen deutscher Firmen und Banken an Staudamm- (Indien) oder Öl-Pipeline-Projekten (Ecuador), an der Gasförderung aus Sibirien, an Zellstoffproduktion in Indonesien oder geringe Beteiligungsmöglichkeiten indigener Gemeinschaften an Verhandlungen der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit verweisen auf ein weites Feld von Aktivitäten zum Nachteil lokaler indigener Bevölkerungsgruppen. Ein großer Teil indigener Völker lebt ebenso in Billiglohnländern, wo sie häufig Opfer von Ausbeutung, Unterbezahlung und mangelnden Sicherheitsvorkehrungen am Arbeitsplatz sind. Aus all diesen direkten und indirekten Interventionen in die Lebensentwürfe indigener Völker erwächst eine direkte Verantwortung.

 

Ebenso fällt der Bundesrepublik Deutschland durch ihre Mitwirkung in internationalen Institutionen Verantwortung für internationale Prozesse zu, die mit den Stichworten Globalisierung oder Strukturanpasssungsmaßnahmen umschrieben werden können. Diese Prozesse erfordern soziale und politische Leitplanken, damit die von diesen Prozessen betroffenen Menschen nicht zu Opfern verkümmern und aller Chancen beraubt werden, ein Leben in Würde und nach eigenen Leitbildern führen zu können. Von daher war die Auffassung der Regierung unter Kanzler Kohl von Anfang an irrig und von der Wirklichkeit widerlegt, die Ratifizierung durch die Bundesrepublik sei für Deutschland irrelevant und völkerrechtlich nicht sinnvoll.

 

Auch das Argument, ohne einschlägige rechtliche Geltung würde eine Ratifizierung das Übereinkommen eher verwässern als stärken, hielt der Überprüfung nicht stand. Von der Bundesrepublik mitgetragene Konventionen wie zur Abschaffung der Todesstrafe oder gegen Rassismus und Apartheid befördern den internationalen Standard zum universell gültigen Normenkatalog, ohne dass entsprechende Tatbestände in Deutschland gegeben wären.

 

Die Relevanz des Übereinkommens 169 indirekt eingestanden hatte das vom damaligen Minister Spranger geleitete Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ). Im November 1996 veröffentlichte das BMZ das Konzept zur Entwicklungszusammenarbeit mit indianischen Bevölkerungsgruppen in Lateinamerika, das sich am Übereinkommen Nr. 169 orientierte und wichtige Grundsätze aufgriff; etwa das Recht indigener Völker, ihre eigenen Prioritäten für den Entwicklungsprozess festzulegen und an den sie betreffenden Entscheidungsprozessen teilzunehmen. Es wäre nun an der Zeit, das erklärte Ziel des Konzepts „Möglichkeiten für eine Verstärkung des deutschen EZ-Engagements zugunsten indigener Bevölkerungsgruppen aufzuzeigen und potentiellen negativen Auswirkungen anderer Maßnahmen auf diese Zielgruppe vorzubeugen“ nicht nur auf die Entwicklungszusammenarbeit mit indigenen Völkern in Lateinamerika zu beschränken, sondern auf andere politische Bereiche und andere Kontinente auszudehnen sowie normativ verbindlich zu regeln.

 

Der Verantwortung gegenüber lokalen Bevölkerungsgruppen gerecht zu werden, versucht die Bundesregierung seit 1998 insofern, indem sie explizit die Stärkung der Menschenrechte als Leitlinie deutscher Politik, die Veränderung der internationalen Strukturen zugunsten gleichberechtigter Partnerschaft und den Abbau der Armut als Ziele ihrer Politik formuliert. Die Bekämpfung von Menschenrechtsverletzungen und Maßnahmen zur Prävention solcher Verletzungen erhalten Priorität. Diese Absichten sind durchaus begrüßenswert, reichen aber ebenfalls nicht aus und bleiben vor allem unverbindlich. Es fehlt die Verpflichtung auf eine substantielle und rechtlich bindende Norm zum Schutz der – kollektiven – Existenz indigener Völker.

 

In der Diskussion um das Für und Wider der Ratifizierung innerhalb der ministeriellen Ressorts tauchte im Herbst 2001 überraschend ein möglicher direkter Anwendungsbereich auf. Nach Auskunft der ILO in Genf könnten etwa in Deutschland lebende Roma sich als ‚in Stämmen lebend‘ im Sinne der Konvention identifizieren und entsprechende Rechte für muttersprachlichen Unterricht u.a.m. geltend machen. Selbst wenn dies zu- und einträfe, halten wir allerdings die Schreckensszenarien für abwegig, die von einzelnen Ministerien in der Diskussion aufgegriffen werden. Da ist etwa von ausufernden Rechtsansprüchen und kaum bewältigbaren Umsetzungsproblemen wegen Länderhoheiten in Bereichen wie der Schulerziehung die Rede. Es liegt eher der Verdacht nahe, dass ein missliebiges Thema durch einen Randaspekt ausgehebelt werden soll. Die eigentliche Bedeutung würde die ILO-Konvention 169 in den Beziehungen zu indigenen Völkern entfalten. Darüber hinaus wäre es ein Skandal, sollte einer Gruppierung wie den Roma eine Menschenrechtsnorm mit dem Argument verweigert werden, sie könnte sie in Anspruch nehmen wollen.

 

 

Welche Wirkung wäre zu erwarten, wenn die Bundesrepublik Deutschland die Konvention 169 ratifiziert?

 

1. Die Ratifizierung stützt eine neue, auf Partnerschaft ausgerichtete Politik gegenüber indigenen Völkern

Die Leitlinien der zukünftigen Politik der Bundesregierung, die Ziele der UN-Dekade zu indigenen Völkern, internationale Rahmenabkommen zur Armutsbekämpfung, zur biologischen Vielfalt u.a.m. sprechen von partnerschaftlicher Politik als eines ihrer wesentlichen Ziele. Die ILO-Konvention 169 hat für die Beziehungen zu indigenen Völkern ausgeklügelte und transparente Verfahren entwickelt. Diese bedeuten nicht automatisch einen Verlust unternehmerischer Aktivitäten, sondern schlicht mehr Absprache und Partizipation der lokalen Bevölkerung. Möglicherweise schmälert dies bisherige Gewinnerwartungen. Die Einhaltung solcher Verfahren erhöht jedoch andererseits die Rechtssicherheit und eröffnet auch neue Aktivitäten unternehmerischer Art oder in der Entwicklungszusammenarbeit.

 

Für eine Exportnation wie die Bundesrepublik Deutschland, die in besonderer Weise von der Glaubwürdigkeit ihrer internationalen partnerschaftlichen Beziehungen abhängt, eröffnet sich mit der ILO-Konvention 169 also eine eher gute Gelegenheit, die Ernsthaftigkeit ihres partnerschaftlichen Ansatzes durch die verbindliche Übernahme entsprechender Normen unter Beweis zu stellen. Verbindliche Kriterien für Sozialverträglichkeitsprüfungen oder bei der Vergabe von Krediten auf bi- und multilateraler Ebene entlang der ILO-Konvention 169 befördern die Einhaltung von Menschenrechtsstandards und gerechten Arbeitsbedingungen.

 

Die Bundesrepublik Deutschland betritt dabei keineswegs Neuland. Zum einen wurden in den bisherigen Signatarstaaten der ILO-Konvention 169 einzelne Normen zum Teil in die Verfassung übernommen, so dass dort die entsprechende Gesetzgebung bereits zu beachten ist. Außerdem ratifizierten die Niederlande die ILO Konvention 169 mit dem ausdrücklichen Hinweis, in Zukunft beim Handel mit Tropenhölzern oder bei Tiefflügen über dem Gebiet der Innu in Kanada neue Maßstäbe für ein partnerschaftliches Auskommen mit der betroffenen lokalen Bevölkerung anzulegen. Ebenso soll das Übereinkommen bei der Planung und Durchführung von Projekten der Entwicklungszusammenarbeit zur Richtschnur werden. Entsprechend sollte die Bundesregierung bei ihrer Außen-, Wirtschafts- und Entwicklungspolitik verfahren.

 

2. Die Ratifizierung erlaubt eine öffentliche Überprüfung

Die Unterzeichnerstaaten der Konvention sind verpflichtet, in regelmäßigen Abständen, hier alle fünf Jahre, einen Bericht über die faktische Umsetzung des Übereinkommens vorzulegen und gegenüber Dritten zu dokumentieren. Wenngleich indigene Völker bei der ILO bislang keine institutionelle Beschwerdemöglichkeit besitzen, besteht die Möglichkeit, über Arbeitnehmer- oder Arbeitgeberorganisationen eigene Erfahrungen und Bewertungen vorzulegen, um die Berichterstattung des Staates kritisch zu durchleuchten. Zusammen mit Medien und Nichtregierungsorganisationen ergibt sich die Möglichkeit, mittels kritischer Öffentlichkeit die verbindliche Einhaltung der ILO-Normen zu befördern.

 

Umgekehrt fände das Bemühen, Bedingungen für eine nachhaltige und sozial gerechte Entwicklung sowie neue Formen der Entwicklungszusammenarbeit mit indigenen Völkern zu schaffen, in der ILO-Konvention 169 einen angemessenen Rahmen. Sie böte außerdem eine internationale öffentliche Plattform zum politischen Dialog über Fragen der globalen Strukturpolitik. Auch hier könnte die Bundesrepublik durch die eingeforderten Berichte und die damit ermöglichte größere Transparenz einen weiteren Pluspunkt im Standortwettbewerb verbuchen.

 

3. Die Ratifizierung stärkt die Etablierung eines völkerrechtlich verbindlichen Normenkatalogs

Die ILO-Konvention 169 kann nur dann zu einer auch faktisch wirksamen internationalen Norm werden, wenn möglichst viele Staaten sowie insbesondere politisch gewichtige Industriesstaaten das Übereinkommen als verbindlich anerkennen. Die Niederlande haben diese Argumentation verwandt, um das Gesetz zur Ratifizierung durch das Parlament zu bringen. Auch das Europaparlament hat in mehreren Resolutionen die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union aufgefordert, der ILO-Konvention 169 beizutreten und damit einen internationalen Menschenrechtsstandard zu stärken.

 

4. Die Ratifizierung reicht über bi- und multilateral vereinbare Regelungen hinaus

Einige der Grundsätze des Übereinkommens Nr.169 lassen sich zweifelsohne auch beispielsweise durch Verhaltensregeln für Wirtschaftsunternehmen oder ein verbessertes Konzept der Entwicklungszusammenarbeit in der deutschen Politik umsetzen. Ein internationaler Standard zum Schutz der Menschenrechte indigener Völker wiegt jedoch um einiges schwerer, und die Interpretation darüber, wie gelungen die Umsetzung ausfällt, würde im Kontext eines internationalen Gremiums vollzogen und der alleinigen Definitionsmacht der Regierung entzogen. Das einmal ratifizierte Übereinkommen zurückzunehmen, wäre ebenfalls ungleich schwieriger im Vergleich zu freiwilligen oder bilateralen Vereinbarungen; etwa, wenn sich die parteipolitische Zusammensetzung von Parlament und Regierung ändern sollte. Die Cordillera Peoples‘ Alliance auf den Philippinen besteht daher auf der Ratifizierung der ILO-Konvention 169 durch die dortige Regierung, obwohl das Indigenen-Gesetz von 1997 (Indigenous Peoples‘ Rights Act oder auch Republic Act 8371) sich weitgehend am Übereinkommen 169 orientiert.

 

Ebenso lässt sich feststellen, dass insbesondere Staaten in Lateinamerika sich zusehends den universalen Menschenrechtsstandards öffnen und deren Respektierung als notwendigen Bestandteil guter Regierungsführung betrachten. So gewinnt das ILO-Übereinkommen 169 mit jedem weiteren Signatarstaat an Gewicht und vergrößert seine normative Wirkung für das Völkerrecht auch im Hinblick auf die Verwirklichung und Umsetzung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte.

 

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